Dieser kritische Beitrag geht der Frage nach, wie
sich in der abendländischen Denktradition ein bestimmtes ideologisches
Verständnis der Wirklichkeit herausgebildet hat: eine fast perfekte Entfremdung
im Namen der Wahrheit. Dieser Entfremdungsprozeß läßt sich historisch
von der Antike bis in die Neuzeit verfolgen, frei nach dem Grundsatz:
Du siehst nur, was du sehen willst.
Wie wir fragen, so sind die Antworten, die wir
über die Wirklichkeit erhalten. Unser Fragen bestimmt in einem Maße unser
Mensch-Sein in der Welt, das nur wenigen bewußt ist. Was ist unser Erkennen
heute? Es ist mehr denn je verbildet und intellektuell verschult. Im Grunde
ist es ein »Lochstreifenbewußtsein«, d.h. wir erkennen damit immer nur
die Ausschnitte der Wirklichkeit, die anzuschauen wir willens sind, die
wir akzeptieren. Wie sehr schon unsere Sprache die »akzeptierte Wirklichkeit«
vorherbestimmt, hat recht schlüssig und humorvoll Watzlawick in seinen
Werken gezeigt. Dazu treten dann noch die persönlichen Zu- und Abneigungen,
Elternhaus, Schule, Zeitgeist usw. Wie jedoch können wir dieses Labyrinth
an persönlichen Konzepten, mentalen und emotionalen Zwängen und Einfriedungen
unseres Bewußtseinshorizontes überwinden?
Lernen
aus der Geschichte
Es gibt in der abendländischen Kultur
verschüttete »Goldadern«. Wir wollen die Schichten dessen, was sich als
das kollektive Weltbild der abendländischen Kultur erweist, aufgraben
und wenigstens bis in jene Anfänge unseres »Lochstreifenbewußtseins« zurückgehen,
als der Mensch lernte, sein »Ich« besser zu begreifen. In diesem Zusammenhang
scheint insbesondere die Epoche ab 600 v.Chr. bemerkenswert, in der das
selbstreflektierende Ich-Bewußtsein seinen Anfang nahm.
Durchbruch
des Denkens
In wenigen hundert Jahren vollzog sich eine geistige Revolution. Im Zuge
der damals aufbrechenden Sinnfragen des Daseins erfolgten Weichenstellungen,
die das abendländische Bewußtsein bis in unsere Zeit geprägt haben. Exemplarisch
seien vier Griechen in den Brennpunkt der Betrachtung gerückt: Pythagoras,
Sokrates, Platon und Aristoteles.
Der
vorsokratische Theoriebegriff: »gnothi seauton«
»Erkenne dich selbst« stand auf der Eingangssäule
des Orakels zu Delphi.
Wenn wir einige Weise des Altertums für unsere Betrachtung heranziehen
und die machtgierigen Tyrannen, die sozialen Mißstände, die Ungebildetheit
jener Zeit und dergleichen außer acht lassen, dann scheint es Ansätze
gegeben zu haben, wo »die Welt noch in Ordnung« war. Was damals Theoria
hieß, hatte einen völlig anderen Sinn als das, was zur heutigen Erkenntnismatrize
ausgewachsen ist. Und das ist der Achsenpunkt der ganzen vorliegenden
Überlegung: Die Theoria des Altertums scheint von unserer heutigen Art
des Denkens ebensoweit entfernt zu sein wie das heutige Denken von der
Intuition: Man verband damit eine geistige Schau der Natur, ein unmittelbar-seelenhaftes
Erfahren des Wesens der Erscheinungswelt, wir würden heute eher sagen:
das Ganze hinter den Teilen. Es gab noch keine Trennungsetiketten wie
»Ding an sich« oder »Pan-« und »Monotheismus«, keine augustinisch-cartesianische
Natur-Geist-Spaltung (dafür aber ganz sicher andere Probleme), und dementsprechend
bestand noch eine gewisse Einheit zwischen Mensch, Natur und Kosmos. Dieses
Schauen war noch mehr ein Erschauern vor dem Numinosen, dem Heiligen,
etwa im Sinne des zentralen Vorganges bei den Mysterien von Eleusis. »Bios
theoreticos« stand für die Bestimmung des Menschen, die Wahrheit als die
Erkenntnis der ewigen Dinge zu erwerben. Das betrifft die Einsicht in
die geistige und materielle Ordnung des Kosmos, die Sinnerkenntnis des
weltlichen und überweltlichen Daseins und die daraus resultierende Erkenntnis,
um das Wesentliche vom Unwesentlichen im Leben unterscheiden zu lernen1.
In Priesterschulen verschiedener Cou-leurs wurden die »alten Wissenschaften«
gepflegt: Astrologie/Astronomie, Geomantie, Magie, Jenseitskunde, Kräuterheilkunde
u.a. Das in dieser Zeit durchaus reichhaltige Wissen stammte aus babylonischen,
sumerischen, ägyptischen, hyperboräischen, ja sogar indischen und chinesischen
Quellen.
Pythagoras
- die Harmonie der Welt
Einer der größten und am nachhaltigsten wirksamen
Lehrer dieser Zeit war Pythagoras (580-500 v.Chr.) (Seine Lehre beschrieb
erst 800 Jahre später Jamblichos). Er verdeutlichte die damals eher gefühlsmäßig
intuitive Suche nach Erkenntnis und Bewußtseinsentfaltung durch eine dreifache
Gliederung: a) »Erkenne dich selbst!« b) »Erkenne die Einheit des Weltgefüges
und ihr geistiges Wesen!« und c) »Erkenne die Verbindung zwischen den
sterblichen Menschen und den unsterblichen Göttern und deinen Weg von
diesem Zustand zu jenem!«2 Um nur das Wichtigste zu streifen: Vorbedingung
für alle weiteren Lehren war die ethische Einübung in die »Lebensregeln,
die zur Läuterung und Weihe, den Aufstieg in die Freiheit des Äthers führen«3.
Sein zweiter Schwerpunkt ist uns heute so gut wie verlorengegangen: Nicht
vermittels unseres gewohnten zergliedernden Fragens, sondern über eine
Art »meditativer Einfühlung« lehrte er eine Kosmologie der Übereinstimmung
von Farbe, Klang, Zahl und Geometrie. Die Quintessenz dieser ganzen Kosmologie
hat Pythagoras im genialen Symbol der »Heiligen Tetraktys«, der »Viereckszahl«
zusammengefaßt (1+2+3+4=10)4. Sie ist bis in unsere Zeit als das aller
Tiefe dieser Symbolik entkleidete »Heilig-Geist-Dreieck« überliefert.
(Ein Hinweis, der nicht so einfach überlesen werden sollte!). Daraus leitete
er auf die Natur bezogen auch eine »Harmonikale Heilkunde« ab5. Das ist
allein schon deshalb bemerkenswert, weil wir heute, über den »Umweg« der
Fraktalen Geometrie und Chaosforschung, die einen wesentlichen Teil des
derzeitigen Paradigmenwechsels umfaßt, wieder auf diese fast verlorenen
Weisheiten zurückkommen. Auf Pythagoras geht der Begriff der »Sphärenharmonie«
zurück, die Kepler weiterentwickelte, dessen »Harmonices Mundi« wiederum
Basis für die moderne »Harmonikale Forschung« (H.Kayser, R. Haase usw.)
ist. Pythagoras stellte somit an die Seite des Begriffes »Welt-Anschauung«
den der »Akroasis«, der »Welt-Anhörung« oder »Ein-Stimmung« (z.B. mittels
des Monochords), die erst neuerdings etwa durch J.E. Behrendt wieder populärer
wurde. Die pythagoräischen Schulen, die auch Frauen ausbildeten, hatten
eine Staatselite zum Ziel (von Plato »Wächter des Staates« genannt), die
sich durch hohe Sittlichkeit und Geisteskraft auszeichnen sollten, »würdig
und fähig, eine humane Lebensordnung zu entwickeln und die Geschicke des
Landes zum Guten und Besten zu führen«.6
Sokrates
- Von der Veredelung der Theoria bis zu deren Verelendung
Sokrates wurde etwa hundert Jahre nach Pythagoras geboren (um 470). Er
wird immer als der Vater der abendländischen Philosophie bezeichnet, sieht
man aber genauer hin, muß man eingestehen, daß er die abendländische Kultur
gerade nicht mit dem beerben konnte, was ihm am teuersten war. So wird
er gerne als Musterbeispiel für die richtige Art des Fragens hingestellt
- ein Wunschtraum, der bis heute (vor allem in den Schulen) kaum eingelöst
ist. Sokrates führte den Lehrdialog ein, anstatt von oben herab eine autoritäre
Belehrung auszuüben. Diese »Hebammenkunst« (Maieutik) sollte die vernünftige
Einsicht in ein tugendsames Leben wecken und Schluß machen mit einer bloß
nachahmenden »Mimesis«, die dem Selbst-Sein - einer authentischen Persönlichkeitsentwicklung
- letztlich nur im Wege steht. Die Maieutik bestand aus zwei, bei ihm
noch eng verflochtenen Stärken des menschlichen Geistes: der Kunst einer
sehr erfolgreichen Vernunftargumentation und der inneren Stimme, die er,
entsprechend seiner Zeit, seinen »Daimonion« nannte. Sokrates versuchte
so durch einfühlendes und logisches Fragen die im Schüler schlummernde
Einsicht und authentische Wahrheit zu entbinden (in moderner Form finden
wir diese Wende erst wieder bei der »Dialogik« eines Martin Buber und
bei Carl Rogers). Die Verurteilung des Sokrates bekundet, wie gefährlich
Macht-»Habern« unabhängiges Denken und geistige Aufbrüche bereits im Athen
jener Zeit erschienen sind.
Platon
- das Rätsel der Erscheinung
Platon ging es neben und mit seinen Ideenlehren bereits um ein organisiertes
Erziehungssystem für Athen. In seiner damit eng verbundenen Ideenlehre
sah er das Wesen der Erkenntnis als ein »Wiedererinnern« der Seele. Heute
versuchen wir wie selbstverständlich, den Menschen ausschließlich aus
seiner biologischen Abstammung zu erklären. Platon hatte hingegen eine
geistige Abstammungslehre im Sinn (vgl. dazu Platons Dialoge »Gorgias«
bzw. »Phaidon« - über die Unsterblichkeit, die Übersinnlichkeit und die
Ewigkeit der Seele), die unserem modernen Verständnis über die Reinkarnation
sehr nahekommt. Ideologiekritisch gesehen ist es ein interessantes Lehrbeispiel,
wie sich aus dieser Perspektive die Fragestellung nach Herkunft, Sinn
und Ziel des menschlichen Daseins ganz anders entwickelt als etwa in unserer
geläufigen Evolutionstheorie (als wissenschaftliche Antwort auf das kirchlich-eschatologische
Dunkel eines »unergründlichen Ratschlusses Gottes«). Mit seiner Ideenlehre
systematisierte und erweiterte Platon die Philosophie des Sokrates. In
seinem bisher unübertroffenen Höhlengleichnis mag davon die Essenz zum
Ausdruck kommen. Darin erfaßte er einerseits das Unvermögen, die Wirklichkeit
und letzte Wahrheit zu erkennen: Der Mensch in einer Höhle, mit dem Rücken
gegen die Wand gefesselt, erblickt an der Mauer nur die Schatten der Dinge
und hält sie für die Wirklichkeit. Dieses Gleichnis ist - angeregt durch
modernes esoterisches Denken - gegenwärtig so aktuell wie nie zuvor. Andererseits
drückt sich darin die Sehnsucht des Menschen aus, von der bloßen Erscheinungswelt
in die Freiheit der dahinterliegenden ewigen Ideen zu gelangen. Doch bereits
Platon versuchte, dieses Rätsel, das bis heute ein Zankapfel der Philosophen
geblieben ist, zu lösen, indem er in seiner Lehrpraxis der Theorie des
systematischen Wissens (um allgemeine Bestimmungen) gegenüber einer letztlich
in Begriffen nicht faßbaren Tiefenerkenntnis des Seins den Vorzug gab.
Damit vollzog er die entscheidende Weichenstellung für die (einseitige)
Zukunft der Fragekunst (Erkenntnistheorie)7. Diese einseitige Bevorzugung
des Rationalen gegenüber dem Ganzmenschen verflachte später zu den Gegensätzen
von »Ding« und »Wesen«, »Allgemeinem« und »Besonderem« und erlangte mit
Descartes ihren Höhepunkt. Hier zieht sich eine fundamentale Verwechslung,
die einer geistigen Vernebelung gleichkommt, wie ein roter Faden durch
die Geistesgeschichte des Abendlandes8. Im Laufe dieser Abhandlung sollte
jedoch deutlich werden, daß ein erfolgversprechenderer Ausweg aus unserem
»Höhlendasein« über das Denken als solches hinausführen muß.
Aristoteles
- die Begründung der wissenschaftlichen Methode
Aristoteles wird gerne dem »idealistischen«
Platon als der »Empiriker«, der Begründer der Wissenschaften, gegenübergestellt.
Von seiner Art zu denken als Begriff, Urteil, Schluß, Definition und Beweis
ging die sezierende Methode aus, die den Widerspruch zu christlichen Lehren
ebenso enthält, wie sie den gro-ßen Teil der Wissenschaften heute noch
beherrscht. Seine Trennung zwischen Erkennen und Handeln schaffte bis
in unsere Zeit Verwirrung. Die jetzt aufbrechenden geistigen Strömungen
versuchen, diese Spaltung zu überwinden. Die klassische Logik des Aristoteles
ist doppelbödig, weil sie sich mit dem einfachen Unterschied von Ich und
Nicht-Ich begnügt9. Die erst neuerdings in ihrer Bedeutung erkannte Ich-Du-Beziehung
(Kommunikationsebene) bleibt dabei ebenso unbeachtet wie deren Unterscheidung
vom Dinglichen, das im aristotelischen Begriff nicht minder der (ur-)
christlichen Anschauung von einer durch und durch lebendigen Schöpfung
widerspricht. Das ändert nichts an der Tatsache, daß Aristoteles der wohl
wirkmächtigste aller Philosophen gewesen sein dürfte, dessen Disziplinensystem
(Unterrichtsfächer, Fakultäten), Logik und Metaphysik wesentlich das Gitterwerk
unserer heutigen Erkenntnismethoden beeinflußt. Dieses polare Denkmuster
des Aristoteles artete im Laufe der Zeit in die Gegensätze von Materialismus
und Idealismus, in die Spaltung in Natur und Geist und in die Trennung
von Wissen und Glauben aus, zumal auch die Scholastik des Hochmittelalters
alles unternahm, um das aristotelische Erbe mit den Prinzipien der Kirchenlehre
zu verbinden, unbedacht seiner besagten Widersprüche zu den (ursprünglichen)
christlichen Lehren. Anders als diese zog es Aristoteles nicht zum »Wesen
der Dinge«, sondern zu deren einordnender Analyse, wobei er aber im Unterschied
zu Galilei den praktischen Nutzen (der die Naturwissenschaft so erfolgreich
machte) daraus nicht ziehen konnte. Er zog vielmehr gegenüber der Tatsachenanalyse
die logische vor (obwohl nach ihm eine vielversprechende Entfaltung der
Wissenschaft und Technik begann, die leider mit dem Kulturverfall der
griechischen Antike wieder verschwand). Indes hatte er den »Daimonion«
des Sokrates offenbar schon vollkommen vergessen. Und das war schwerwiegend
genug, denn damit vollendete er Platons lediglich lehrpraktische Weichenstellung
zu einer bloß auf das Denken reduzierten Geistesdisziplin, die bis heute
zum alleinherrschenden Götzen erhoben worden ist (man denke an »rational«
versus »irrational«). Damit wurde das, worin sich noch Sokrates nach eigenem
Zeugnis in allem leiten ließ und was er höher schätzte als alle sonstige
Autorität, nicht mehr weiter verfolgt und gepflegt, verfiel dem Unverständnis
und sollte in der Folge bloß zu einem konfessionell-religiösen Druckmittel
verkommen. Weiters unterschied Aristoteles vier Grundfragen, von denen
die ersten drei (causa materialis = Stoff, das Was; causa formalis = Form,
das Wie; causa efficiens = Wirkursache = Wodurch) Eingang in die moderne
Naturwissenschaft gefunden haben. Die vierte ist die causa finalis (der
Sinn, die Bestimmung von etwas, von ihm auch »Teleologie« genannt). Doch
wie alle seine Nach-Denker bis heute, vergaß er zwischen einem vom Menschen
zugedachten Zweck (im Sinne unseres heute alles bestimmenden Werkzeug-
und Wirtschaftsdenkens) und einem »Sinn für sich selbst« zu unterscheiden.
Dieser ist nicht zuletzt auch das Opfer der unglücklichen Chimäre des
Pantheismus/Monotheismus-Streits geworden: Die Wesenheiten der Natur (»lebendige
Schöpfung«) sollten nicht in ihrer Bestimmung aus ihrem innewohnenden
Wesensgrund heraus gelten dürfen, sondern für etwas anderes, Äußeres,
sei es für einen unendlich fernen (augustinischen) Gott, oder in der Naturwissenschaft
bloß dem Zweck unserer Bedürfnisbefriedigung). So darf es nicht verwundern,
wenn die moderne Aufklärung diese Causa finalis, Teleologie und Entelechie
(Seele) als vielfach mißbrauchte Worthülsen und unhaltbares Sammelsurium
in die Ecke des Aberglaubens kehrte. Als Gegenbeispiel ging etwa der Taoismus
einen völlig anderen Weg (der allerdings die soziale Verantwortlichkeit
aus den Augen verlor): Er beantwortet die Frage nach der »Wesensnatur«
nicht durch Denken, sondern durch einen Akt des inneren Verschmelzens,
des Miteinander-Einswerdens. Das Abendland hingegen reduzierte konsequent
das höchste Ziel des Menschen, das »Erkenne dich selbst«, auf die Ausbildung
und Vervollkommnung der bloßen Vernunft.
Das
Christentum - Vom »Geist der Wahrheit« zur Ideologie als Macht
Während auf der einen Seite das Abendland
zunehmend im Chaos des zerfallenden römischen Reiches und der Völkerwanderung
ertrank, erhob sich auf der anderen Seite eine neue geistige Bewegung
über alle Widerstände hinweg zu ständig wachsender äußerer Macht und innerer
Einheit: das Christentum. In wenigen Jahrhunderten wurde aus ihr der unbestreitbare
Repräsentant der mittelalterlichen Geisteskultur. Doch im fortwährenden
Kampf gegen all das, was seine einflußreichsten Köpfe zu Heidentum und
Häresie erklärten, festigte und verteidigte es seine »unantastbare christliche
Wahrheit« mit großer Konsequenz und Härte. Mit fanatisch-unduldsamer Kraft
überdauerte es alle anderen geistigen Körperschaften der Zeit. Das frühe
Christentum erinnert - mit einigen wichtigen Einschränkungen - sehr an
heutige Strömungen der Pfingstbewegung und Esoterik. Die Einschränkungen
betreffen das ganze kulturelle Umfeld: Damals stand einer solch »irrationalen«
Bewegung nicht die Macht einer etablierten Naturwissenschaft gegenüber,
sondern die zerfallende römische Staatsmacht. Das Erbe der griechischen
Hochkultur, etwa der Pythagoräismus, der in den Neuplatonismus aufgegangen
war, prägte das frühe Christentum wohl ebenso mit, wie es zu dessen Konkurrenz
wurde. Die massivsten Auseinandersetzungen gibt es ja meist zwischen zwei
Parteien, die einander im Grunde doch sehr ähneln (wie dies auch für den
Manichäismus gilt). Darum war es wichtig, ebenso prinzipielle Unterschiede
aufzurichten, auch wenn diese aus anderer Perspektive sehr kleinlich erscheinen
mögen, etwa die scharfe Auseinandersetzung über Jesus als herabgestiegenen
Gott, der keinen anderen neben sich duldet. Damit allein ließ sich schon
ein mächtiges Bollwerk gegen alle Andersdenkenden (sprich: Heiden) errichten.
Mit dem Platonismus und Manichäismus gemeinsam hatte diese damalige »Jugendreligion«
die Abkehr von allem Irdischen, Zeitlichen, die Hinwendung zur reinen
Idee, zum Logos, den man in Jesus Christus verkörpert sah. Die Werkzeuge
der Vernunft, repräsentiert etwa durch den abgeklärten Philosophen, waren
damals eher selten das Mittel der Wahl, wo es vielmehr um Macht, Kampf
und Sieg ging. Der Mensch ist überdies eher bereit, für ein Ideal hoch
über ihm als für seine Existenz und seine irdischen Habseligkeiten zu
kämpfen und zu sterben. Für sein ewiges Leben zu kämpfen besticht ihn
mehr als der Kampf für sein irdisches. Einer solchen Kraft ist auch die
Vernunft eine Gefahr. In ihrer ausschließlichen Form kann sie den Menschen
gerade jene metaphysische Sehnsucht rauben - siehe dialektischer Materialismus
-, die ihm den eigentlichen Sinn und Halt im Leben gibt und ihn so als
Rädchen in einem ziemlich mechanischen Uhrwerk verfügbar machen. Verfügbarer
Idealismus hat also einen äußerst hohen Kurswert. Und so erklärt sich,
daß ein solcher »einzig wahrer Glaube« erst nach eineinhalb Jahrtausenden,
nach unsäglichen Enttäuschungen, eine zunehmende Preisgabe erfährt. Um
diese Macht des Glaubens noch besser zu verstehen, müssen wir uns der
treibenden archetypischen Struktur dahinter bewußt werden: Der Mensch
ist stets eingespannt zwischen zwei Polen: dem, was ist, und dem, wonach
er sich sehnt, was nach seiner Meinung sein soll. Wenn er kein tiefgreifendes
Ziel, keine Vision, keinen Sinn mehr sieht, wofür er sein Leben einsetzen
kann, verwirft er es in ausufernder Primitivität. Was den Hauptstrom betrifft,
so hat der Abendländer zu jener Zeit beschlossen, seinen Inbegriff für
Sinn, Vision und Ziel schlicht und persönlich »Gott« zu nennen. Indes
merkte er offenbar gar nicht, wie er als »Taucher auf dem Meeresgrund«
zunehmend den Schlauch abschnürte, der ihn von oben her mit dem lebensnotwendigen
spirituellen Odem versorgte. Denn anstatt in die Weite und spirituelle
Größe zu wachsen, definierte er seine Sinnvorstellungen in einem unaufhörlichen
Kleinkrieg gegen seine eigene »niedrige« Natur und gegen äußere Feinde
immer enger. Und davon gab es reichlich. Es seien aus dieser Zeit nur
einige geschichtsmächtig gewordene Beispiele hervorgehoben: Den Gnostikern,
die in ihrem »Hochmut« versuchten, Gott, ihre Erfüllung, durch »Schau«
zu erkennen, schleuderte Irenäus einen ganz und gar unbegreiflichen Gott
entgegen. Und Tertullian traf mit seinem »Credo quia absurdum« nicht nur
»Heiden« und »Häretiker« ins Mark. Er gab damit dem, was sich allmählich
aus dem mythischen Bildverstehen des Altertums immer komprimierter als
»Glaube« definierte, eine kämpferische Qualität, welche sogar im Zeitalter
der herrschenden Naturwissenschaft ein ersehntes Gegengewicht zur durchrationalisierten
Eiseskälte des Materialismus und ein Zufluchtsort gegen den zersetzenden
analytischen Atomismus ist. Darum ist auch heute die neuerliche Verbindung
von Religiosität und Wissenschaftlichkeit, Herz und Hirn, so erstrebenswert.
Denn nur sie rüttelt an den Grundfesten jener tiefen Kluft und Wunde,
die durch die Auseinandersetzung von Glaube und Wissen entstanden ist.
Zerbrochene
Hoffnungen
Während nun auf der einen Front das Blut
der Märtyrer half, die kirchliche Macht erst einmal von den mehr philosophisch
beschaulichen, toleranteren, aber damit auch vergleichbar feigen gnostischen
Christen zu reinigen10, unternahm Origenes (185-254), Schüler desselben
Lehrers wie Plotin, den in seiner Weite bis heute unübertroffenen, aber
leider erfolglos gebliebenen Versuch der Verschmelzung christlicher und
neuplatonischer Einsichten. Sein Werk ist davon geprägt, nicht kämpferisch
Widersprechendes, sondern Versöhnliches zum Ausdruck zu bringen. Seine
»Allversöhnungslehre« stellte der später dogmatisierten Lehre der ewigen
Verdammnis durch einen strafenden Gott die Konzeption eines barmherzigen
Gottes gegenüber, der jeden, auch den verlorensten und ärmsten Teufel,
letztlich zum Heil führen möchte. Diese Sichtweise steht im Rahmen einer
vorweggenommenen Evolutionslehre, die aber im Unterschied zur heutigen
nicht auf den Prinzipien von Zufall und Kampf um Gattungsvorteile im materiellen
Dasein beruht, sondern vom Sinn nach geistiger Vervollkommnung durchdrungen
ist. Damit gibt Origenes zugleich eine vorwärts führende Antwort auf die
schwierige Frage nach der ungerechten Chancenverteilung der Individuen
durch einen ja doch als nur gut gesehenen Gott (Theodizeeproblem): Die
gegenwärtige Lebenssituation sei eine Folge der Vergangenheit der Seele,
die ihre Erstursache im Mißbrauch der Willensfreiheit (Abfall von Gott)
habe. Für die Entwicklung der Geisteskultur und Pädagogik wäre von großer
Wichtigkeit allein schon der Gedanke gewesen, daß er die Bedeutung des
Erdenlebens als unerläßlichen Schulungs- und Bewährungsort für die Seele
auf ihrem Rückweg zur göttlichen Heimat herausstellte, anstatt darin bloß
ein »Jammertal«, einen »Sündenpfuhl« und ein »Grab der Seele« zu sehen.
Doch in zahlreiche Intrigen und Zwänge verstrickt, verurteilte Papst Valerius
diesen vielversprechenden Ansatz, und so ging die Kulturgeschichte andere
Wege11.
Augustinus
- Schaden im Nutzen
Denn bald tritt Augustinus auf den Plan,
der wohl bedeutendste neben den beiden anderen Kirchenvätern, Ambrosius
und Hieronymus. Auf Ambrosius geht im wesentlichen die Regelung Staat-Kirche
zurück, indem er den Kaiser dazu brachte, sich in Gehorsam der Kirche
zu unterstellen. Hieronymus war die Körperfeindlichkeit wichtiger als
das ganze soziale Elend, das mit dem Zerfall des Römischen Reiches einherging.
Doch wie kein anderer legte Augustinus das Fundament für eine systematische
Macht und Ideologiebildung - zwar in bester Absicht, aber man kann es
auch »Entfremdung« nennen. Wie auch immer, er verstand die kirchliche
Festung an den tiefsten menschlichen Ängsten zu verankern: So perfektionierte
er die von den Platonisten vorgeformte und (u.a.) von Hieronymus und Irenäus
ausgefeilte Leib- und Naturfeindlichkeit durch die besonders geschichtsmächtig
gewordene Argumentation, der Mensch sei zwar ursprünglich »Ebenbild Gottes«,
aber durch die »Erbsünde« von Geburt aus sündig, böse und unwürdig. (Daraus
wurde bis Rousseau der Erziehungsbegriff abgeleitet.) Seine geradezu krankhafte
Selbstkritik verstrickt ihn bald in den Widerspruch zwischen Erbsünde
und Freiheit. Schließlich glaubt er sogar, dem Menschen zuviel der Ehre
anzutun, wenn er ihm Freiheit zuschreibt, weil er damit die Ehre Gottes
gemindert sieht. Alle Anstrengung aus sich heraus helfe dem Menschen nichts,
wenn er nicht durch die Gnade »nach dem ewigen Ratschluß Gottes«, also
weiter nicht einsehbar (siehe: »credo quia absurdum«), errettet werde.
Diese Überzeugung wäre aber noch vergleichbar harmlos, hätte sie Augustinus
nicht mit der Lehre von der ewigen Verdammnis verschweißt. Das machte
ihre Wirkung derart nachhaltig, daß sie in der Folge sogar alle Folter
und Verfolgung durch die Inquisition rechtfertigen sollte. Selbstverständlich
kann der Mensch nicht angesichts einer solchen Schreckenskraft leben.
Er wird alles geben, wenn ihm nur jemand einen Ausweg bietet. Und Augustinus
war sicher der letzte, der seine Schäfchen den reißenden Wölfen preisgeben
wollte. So zog er um sie ein sorgsam behütetes Gehege: das Bild einer
Kirche als einige und einzige Gemeinschaft Christi, die nach Gottes Willen
(!) die zum Heil Berufenen sammelt und außerhalb derer es kein Heil gibt
(in der Form gültig bis zum 2. Vaticanum). (Die Ohrenbeichte sicherte
dabei die Kontrolle der kirchlichen Machtpolitik bis in die Schlafzimmer,
und der Ablaßzauber brachte neben dem Arrangement mit der weltlichen Macht
das nötige Geld, um dem Klerus in allem freie Hand zu geben.) So hat es
den Anschein, daß Augustinus, wie gesagt, vermutlich unbeabsichtigt zum
Handlanger einer der zynischsten Machtverschwörungen wurde, welche die
Welt kennt. Nun hatte er auf den ersten Blick auch manch Bewundernswertes
geäußert, so etwa, daß es zwei Offenbarungen gäbe: die eine des »unmittelbar
gesprochenen Wortes Gottes«, das in der Bibel für alle Zeiten festgelegt
sei, und eine indirekte, in Form der Schöpfung nämlich, der aber aufgrund
ihres »gefallenen« Zustandes grundsätzlich zu mißtrauen sei und im Menschen
selbst in Richtung Abtötung bekämpft werden müsse. Um nun alle Kräfte
auf die erste Offenbarung einzuschwören, also zur Festigung des (»rechten«)
Glaubens, ächtete er das kosmozentrische Weltbild der Griechen, das (1.)
von einem die Welt durchwirkenden und belebenden Gottesprinzip ausging
und das (2.) der Mensch in sich graduell erschauen und erspüren könne.
Statt dessen etablierte er (aber keineswegs nur er) das theozentrische
Weltbild eines dem Menschen unendlich gegenüberstehenden persönlichen
(dreifaltigen) Schöpfergottes. Und der Lehrplan dieses Wahnsinns bleibt
in der Folge auch nicht dabei stehen, sondern verspinnt den, der so glaubt,
in unzählige Haarspaltereien, deren Ziel die Übung selbst ist: ihn auf
Isolation und Trennung zu programmieren, damit er sich im besten »Glauben«
Feinde schafft, wo Liebe/Weisheit, Weitsicht und Toleranz am Platze wäre.
Ein gutes halbes Jahrtausend verstrich so zunächst ohne Suche nach weiteren
Vernunftgründen oder sonderliche Fragen an die Natur. Und was den Geist
betrifft, so war von nun an spirituelle Erfahrung, wie sie Mystiker und
insbesondere Mystikerinnen haben, nicht mehr und spirituelle Erkenntnis
schon gar nicht mehr gefragt. Solche »Wildwüchse« hatten sich entweder
kirchenkonform zu verhalten oder spielten mit dem Ausschluß aus der sozialen
Gemeinschaft, wenn nicht gar mit dem Tod. Das andere Problem, nämlich
daß wir ja nicht so einfach die Natur abtöten und verdrängen können, wurde
um die Jahrtausendwende erst von der Scholastik wieder aufgegriffen. Sie
durfte endlich die aristotelischen Erkenntnisse neu erschließen, aber
nur in jener engen Form, die das Bollwerk des christlichen Glaubens weiter
ausbauen half - eine Fessel, welche in der Renaissance zu immer heftigeren
Gegenreaktionen Anlaß geben sollte.
Syntheseversuche
- vertane Chance
Es sei die Frage berechtigt: Wie sähe das
heutige naturwissenschaftliche Weltbild aus, wie hätte insbesondere Darwin
seine Theorie formuliert, wenn etwa ein Denker und Seher wie Origenes
anstelle von Augustinus geschichtsmächtig geworden wäre? (Der Streit um
ihn währte immerhin drei Jahrhunderte und erhebt sich tatsächlich heute
wieder erneut, insbesondere seit dem Einspruch jener, die weder der rein
materialistischen Evolutionstheorie folgen, noch sich dem fundamentalistischen
Lager anschließen wollen.) Ich wies bereits darauf hin, daß Origenes'
Werk den Entwurf einer geistigen Evolutionslehre vorwegnimmt, die aber
im Unterschied zur heutigen nicht auf den Prinzipien von automatischen
Mechanismen, blindem Zufall und Kampf um Gattungsvorteile im materiellen
Dasein beruht, sondern von einem Sinn nach geistiger Vervollkommnung getragen
wird. Hier ist der Mensch noch untrennbarer Teil des Schöpfungsganzen
und ohne ihn, vor allem ohne seine ethische Bewältigung und Durchdringung
des Daseins, kann das Schöpfungsganze sein evolutionäres Ziel nicht erreichen
- woraus Origenes sogar seine bereits erwähnte Antwort für die schwierige
Frage nach der ungerechten Chancenverteilung der Individuen durch einen
ja doch als nur gut gesehenen Gott (Theodizeeproblem) ableitet, wonach
die gegenwärtige Lebenssituation eine Folge der vorgeburtlichen Vergangenheit
der Seele ist, die ihre Erstursache im Mißbrauch ihrer Willensfreiheit
(Abfall von Gott) habe. Dabei bleibt es offen, ob Origenes zugleich damit
auch eine positive Antwort auf die Reinkarnationsfrage gab. Das ist hier
auch nicht das Entscheidende. Wichtig und geradezu von umstürzender Bedeutung
wäre vielmehr die Sichtweise, daß der Mensch auch an der Wurzel einer
geistigen Evolution teilhat, die noch dazu in keinem Widerspruch zu den
tatsächlich recht erhärteten naturwissenschaftlichen Modellen stehen muß.
Wichtig wäre nur die Perspektive, daß damit einer (allerdings mehr geisteswissenschaftlich-metaphysischen)
Forschung eine Tür aufgestoßen wird, die in ungeahnter Weise das sehr
einseitige und menschlich völlig unbefriedigende Ergebnis gängiger Evolutionstheorien
ergänzen und auf eine neue Betrachtungsebene heben könnte. Wodurch sich
unser gesamter Kulturbegriff neu ordnen würde, und zwar wirklich ordnen!
Origenes weist (in der ihm eigenen Ausdrucksweise) somit schon seinerzeit
weit über Theorien hinaus, wie sie erst von Teilhard de Chardin in mancher
Hinsicht sogar zurückhaltender bzw. nur abstrakt - formuliert worden sind.
Giordano
Bruno
In diesen Reigen paßt auch - ich mache jetzt
allerdings zeitlich einen über tausendjährigen Sprung - Giordano Bruno
(1548 bis 1600). Was wäre gewesen, wenn er, statt dem Glauben am Scheiterhaufen
geopfert worden zu sein, seine lebendige Schau des Universums einem Newton
hätte gegenüberstellen dürfen? Teilhard hat ihn letztlich nur wiederholt,
wenn er von der impliziten Weltenordnung einer Intelligenz sprach, die
das Universum und uns selbst durchdringt - und die, wenn sie uns wirklich
innewohnt, ja auch von uns selbst (introspektiv) erfahrbar sein muß. (Vielleicht
ist es fast zu einfach, um glaubhaft zu sein: Stehen wir nicht so lange
im Spannungsfeld der Ideologien, Modelle und Theorien, als wir nicht lernen,
mit den Augen der Liebe »von Angesicht zu Angesicht zu schauen« - wie
es Paulus in Kor.1/13 nahelegt?)
Der
Heilige Gral
Andere Versuche erträumten zaghaft (und mehr
geheim als offen) eine freiere Kultur, welche seit dem neunten Jahrhundert
begann, die Reste der Gnostiker, arabischer und jüdischer Geheimlehren
und keltischer Naturweisheit mit einem rein mystischen Christentum zu
einer höheren Einheit zu verbinden. Den bekanntesten Niederschlag fanden
diese Entwürfe in den verschiedenen Versionen des Gralsepos. In ihm widerspiegelt
sich der wohl schillerndste, tiefsinnigste, weil urbildhafteste »Synkretismus«,
in Wahrheit aber schlicht und ergreifend der ewige Mythos von der Suche
der Seele nach ihrer wahren Heimat. »Gral« bedeutet »gradale«, will heißen:
der stufenweise Aufstieg der Seele ins Licht, er ist aber auch der »lapis
exilis« oder »ex coelis«, der (grüne) Stein, der einst das Dritte Auge
Luzifers zierte, welcher der Legende nach bei seinem Sturz ins Dunkel
auf die Erde fiel (exoterisch: vielleicht die Erinnerung an einen über
Böhmen geborstenen großen Meteor, siehe Moldavite). Die Irrungen führen
»Perceval« mitten hindurch durch die Niederungen des Daseins, durch das
Dickicht unserer »gefallenen« Natur (was den abendländischen Weg wesentlich
vom orientalischen unterscheidet). Es ist ein Weg durch mehrschichtige
Umwandlungen: vom Narren zum Ritter (»Retter«) und zum Gralskönig; sie
führen zugleich den Mann ins Erlernen der weiblichen (empfangenden) Attribute
ein, also von der roten Rose der Leidenschaft als »Conduir amour« (Führung
durch Liebe) bis zur »Blanche fleur«, der Siegeslilie, der Verherrlichung;
und zugleich damit vom »Amfortas« - den am Geschlecht Verwundeten, Siechenden
- zu dessen Heilung und Befreiung, um endlich wieder seinen Platz am Tisch
und Born der Fülle und des ewigen Lebens zu finden (also statt bloßem
Sex in die Aktivierung der spirituellen Schaltzentren des Bewußtseins
- der Chakren). In dieser Zeit blühte und fruchtete ein unerhört reichhaltiger
Symbolismus, dem die verschiedensten Bewegungen entwuchsen: Katharer,
Templer, auch die (geheimen) Bauherrnorden der gothischen Kathedralen
und nicht zuletzt (nämlich als Wiederbelebung der alten Naturphilosophie)
die Alchemisten.
Andere
Kräfte
Genau das, was heute der universitären und
technologischen Wissenschaft völlig verloren gegangen ist, war die große
Stärke der Alchimie: die bei weitem unterschätzte Fähigkeit des Menschen
zur kreativen Symbolisation. Damit meine ich einen Bewußtseinsprozeß,
der Wirklichkeit schafft, indem er Urbilder (Archetypen) aufzugreifen
vermag, um sie für sich und für die Welt, in der er lebt, fruchtbar anzuwenden.
Anwenden kann allerdings immer zweierlei heißen (und das gilt für jedes
Tun): Egozentrisch oder im Einklang mit dem Ganzen. Im Mittelalter galt
die egozentrische Form unter »Eingeweihten« klar als Schwarze Magie, heute
hingegen wird sie allzu oft als nützliches, gesellschaftsübliches Erfolgsstreben
gepriesen (wohl ein deutliches Zeichen, wie sehr wir in unserer heutigen
Kultur einen »ganz normalen Wahnsinn« leben). Um in Einklang mit dem Ganzen
zu kommen, gibt es seit jeher eine Reihe erprobter Mittel: die Entscheidung,
sein Leben auf diese Ganzheit abzustimmen und das Ego ihr zu unterstellen;
das Gebet; Meditation und Introspektion; das Ritual (etwa Kreisrituale),
welches durch ein äußeres Abbild das Urbild, also die ursprüngliche, noch
heile Welt im Inneren des Gestalters/Betrachters erweckt; dazu gehört
meist eine andere Form von »Trance« als die, in der wir normalerweise
den Tag verleben: Sie wird induziert etwa durch das gerade angedeutete
rituelle Sich-Hineinversetzen, also durch die Ausführung einer Kosmogonie
sowie durch Anrufungen; ähnliches bewirkt das monotone Wiederholen von
Gebetsformeln oder genau geübtes Intonieren bestimmter Silben(-folgen);
des weiteren können andere Bewußtseinszustände entstehen durch Atemdisziplin,
durch Rhythmus, Musik und Tanz (wobei nicht selten ganz bestimmte Schritte
und Haltungen mitentscheiden).
Alchimie
Das alles dürfte damals mehr oder minder
geheim geübt worden sein. Doch entwickelte sich vor allem eine Art, ähnlich
der Kosmogonie (nur betonter vorwärts führend): die verschlungenen Wege
der Alchimie. Sie entgingen am ehesten dem eifersüchtigen Auge der damaligen
Machtkirche, weil sich ihr Wesen hinter einer schier undurchdringlichen
christlichen Symbolik verbarg und weil jeder den Schlüssel dazu letztlich
selbst finden mußte. Ihre Stärke war zugleich auch ihre Unfertigkeit,
ihre Offenheit, ja es war nicht einmal klar bewußt und ausgedrückt, was
darin tatsächlich wirkte - etwa daß eine derartige Veränderung von Naturprozessen
gleichzeitig zur Komprimation und »Schwingungserhöhung« der Bioenergie
führt. Dieser Vorgang schließt oft auch die vorgenannten Methoden mit
ein, bevorzugt aber folgende Bewußtseinsprozesse: die Gleichsetzung von
innen und außen, Subjekt und Objekt (Emotion und »Äther«-Energie), den
Dialog zwischen Bewußtseinen und Lebendigkeiten, in dem es an sich nichts
Totes, Starres, Festes gibt; die Anbindung von oben und unten, Geist (das
Heilige schlechthin) und Natur, das konsequente Denken in Analogien, Symbolen
und Qualitäten (Blei ist nicht das Element Blei, sondern wird nur durch
dieses repräsentiert). So wird aus »dem, was jeder verachtet« (dem excrementum)
der »lapis philosophorum«, der Stein der Weisen - durch eine Aufeinanderfolge
mühevoller Prozesse, die immer wieder scheitern, bis sie endlich glücken,
dann nämlich, wenn das Innere so geläutert ist, daß es diese Läuterung
auch im Äußeren bewirkt. Selbst aus diesen wenigen Andeutungen geht hervor,
daß es sich hier im Vergleich zu unserer heutigen Version von »kultureller
Trance« um ein gänzlich anderes, ja teilweise geradezu konträres Bewußtsein
handelt. Leider ist es eine Eigenart des »modernen«, ach so »aufgeklärten«
Menschen, daß er bloß verspottet, was er nicht versteht ... Auch wenn
dieses »ganz andere« noch irgendwo in seinem Unterbe-wußtsein spukt, etwa
als romantische Idee oder als der Aberglaube, mit dem er seine Geschäfte
und Liebschaften umgarnt, er hat es - je universitärer, desto perverser
(und überheblicher) - meist ungemein und ungeniert verdrängt. Gut, auch
hier eine »mittelalterliche« Idee, die auf dem Weg zur Ganzheit vielleicht
endlich wieder mit neuen Augen betrachtet werden möchte ... Es ist hier
leider nicht ausreichend Platz, um noch weitere bedeutende Geister hervorzuheben,
die versuchten, in eine dunkle Epoche der Machtpolitik etwas Licht zu
bringen: Etwa ein Paracelsus, weitaus früher schon eine Hildegard von
Bingen, eine Theresa von Avila, Nicolaus Cusanus, Jacob Böhme ... Wenigstens
einer von ihnen sei noch gestreift:
Meister
Eckehart
Meister Eckehart (1260-1327) gehört wohl
zu denen, die am aussagekräftigsten und sprachgewandtesten versuchten,
den morschen und fehlgeleiteten Geleisen von Feudalismus, Klerikalismus
und Theologismus die eigentlichen Tiefen christlicher Grundideen gegenüberzustellen.
Zwar wurde auch er am Ende seines Lebens gezwungen, seiner Lehre eine
allgemein gehaltene Widerrufung beizufügen, und so konnte natürlich auch
sein Werk der kirchlichen Zensur nicht entrinnen. Aber durch einige seiner
Schüler und in manchem durch Nicolaus Cusanus überlebte doch zumindest
etwas davon und fristete ein umkämpftes Dasein auf manchen Höfen und Schulen.
Heute - nicht zuletzt durch seine Ähnlichkeit mit buddhistischen Ideen
und Paradigmen - findet er zunehmend wieder Beachtung. Meister Eckehart
machte den großartigen Versuch, die Widersprüche zwischen Glauben und
logischem Wissen über eine christliche Mystik auszuräumen. Mit ihm wird
deutlich, daß dem Menschen stets zwei Wege offen stehen: den in die grenzenlose
Vielfalt und den in die unermeßliche Einheit, den nach außen und den nach
innen, den in die Beobachtung der Natur als Objekt oder den in die Vertiefung
in sich selbst, in die innere Natur, ins Wesen oder die Natur der Natur;
den in die Beherrschung der Welt und den in die Beherrschung seiner selbst;
den des Eintauchens in alles außen Machbare, Verfügbare oder in alles
gleich einem Spiegel unser selbst, egal ob innen oder außen (wobei ja
das eine das andere nicht ausschließt; die Geschichte der letzten zwei
Jahrtausende ist aber auch eine Geschichte der Trennung und damit einseitigen
Verzerrung). Wenn die Seele alles ausscheidet, was sie von Gott trennt,
so wird sie Gott gleich. »Danach folgt, daß sein Wesen und seine Substanz
und seine Natur mein ist. Und wenn denn seine Substanz, sein Wesen und
seine Natur mein ist, so bin ich der Sohn Gottes.« Mit solchen Aussagen
machte er sich freilich nicht beliebt und mußte am Ende seiner irdischen
Tage widerrufen, wonach sich die Zensoren über sein Werk hermachten. Das
Bollwerk der äußeren (konfessionell-dogmatisch statt mystisch, anders
gesagt: durch »Glauben« anstatt Re-Ligio begründeten) Macht konnte sein
Erziehungswerk im Volk fortsetzen. Eckehart aber weist mit seiner Lehre
vom inneren Gottesfunken den Ausweg aus der Trennung von Geist und Natur,
konnte allerdings damit den Lauf der Geistesgeschichte, die sich bereits
auf eine solche Trennung eingeschworen hatte, kaum beeinflussen. Wie Augustinus
am Anfang steht als der geistige Vater einer äußeren Machtkirche, so steht
Eckhart am Ende der Scholastik als der geistige Vater einer inneren Geistkirche,
die allerdings leider bis heute noch nicht gesellschaftswirksam geworden
ist.
In
den Spiegel geschaut
Sein Werk läßt sich als Versuch verstehen,
uns zu schonungsloser Betrachtung im Spiegel der Herzenserkenntnis anzuhalten.
Doch noch eine andere schwerwiegende Frage an unsere »Kultur« wirft dieses
Werk auf: Mag sein, daß wir Ziele, die in äußere Macht münden, noch halbwegs
sicher als inhuman entlarven können. Haben wir aber im anderen Extrem
ein Recht, Wege abzulehnen, die uns tiefer in die Geheimnisse unseres
Lebens einführen, die uns auch sensibler, wertvoller für Mitmensch und
Natur machen, nur weil sie nicht in die Mode der Zeit oder Tradition passen?
Darum ist der Zynismus, mit dem die etablierte Wissenschaft und die öffentliche
Diskussion meist solch grundlegenden Existenzfragen ausweicht, nicht nur
unverständlich, sondern zeugt eigentlich von der Primitivität unseres
heutigen Zeitgeistes, dem bei genauerer Betrachtung jedes Naturvolk überlegen
ist. Und wir müssen außerdem zugeben, daß es in unseren Norm-Schulen nichts
gibt, was auch nur Ansätze zu einer solchen seelischen Verfeinerung bieten
könnte. Im Gegenteil, deren Lehrplan begnügt sich bisher weitgehend damit,
Heranwachsende in Richtung Beherrschung der äußeren Welt zu programmieren.
Diese Einseitigkeit und gefährliche Überschätzung des menschlichen Masses
verstärkt sich noch in der folgenden Periode der wissenschaftlichen Revolution.
Anmerkungen:
- Olof Gigon: Die Lebensform der Theoria; in: Propyläen Weltgeschichte,
Bd. 3, Ullstein Vlg., Frankfurt/Berlin 1986, S. 609ff.
- Inge von Wedemeyer: Die Goldenen Verse des Pythagoras, Vlg. Heilbronn
1983, S. 21 u. 55
- a.a.O. S. 27ff
- a.a.O. S. 41ff
- a.a.O. S. 47ff. Diese Heilkunde beruht auf der Elementelehre von
Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther.
- a.a.O. S. 9
- Hans Sluga am 2. Kongreß für Österreichische Philosophie, Wien 1990,
in »Mensch, Natur, Gesellschaft«, Solaris Vlg. Innsbruck, Jg. 8, H.
1, S. 6
- Hans Sluga, a.a.O.
- Herbert Pietschmann: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, Ed. Weitbrecht
1991, S. 245
- Elaine Pagels: Verführung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien;
Suhrkamp Tb. Frankfurt 1987).
- Propyläen Weltgeschichte, Bd. IV, S. 464 ff)
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