Dr. Claudius Kern
Macht und Ohnmacht der Philosophie
Zur Ideologiegeschichte des Abendlandes - Teil 1
[Teil 2] [CROPfm] [Past Shows]

 

SENDUNG On-Line hören

 

Dieser kritische Beitrag geht der Frage nach, wie sich in der abendländischen Denktradition ein bestimmtes ideologisches Verständnis der Wirklichkeit herausgebildet hat: eine fast perfekte Entfremdung im Namen der Wahrheit. Dieser Entfremdungsprozeß läßt sich historisch von der Antike bis in die Neuzeit verfolgen, frei nach dem Grundsatz: Du siehst nur, was du sehen willst.

Wie wir fragen, so sind die Antworten, die wir über die Wirklichkeit erhalten. Unser Fragen bestimmt in einem Maße unser Mensch-Sein in der Welt, das nur wenigen bewußt ist. Was ist unser Erkennen heute? Es ist mehr denn je verbildet und intellektuell verschult. Im Grunde ist es ein »Lochstreifenbewußtsein«, d.h. wir erkennen damit immer nur die Ausschnitte der Wirklichkeit, die anzuschauen wir willens sind, die wir akzeptieren. Wie sehr schon unsere Sprache die »akzeptierte Wirklichkeit« vorherbestimmt, hat recht schlüssig und humorvoll Watzlawick in seinen Werken gezeigt. Dazu treten dann noch die persönlichen Zu- und Abneigungen, Elternhaus, Schule, Zeitgeist usw. Wie jedoch können wir dieses Labyrinth an persönlichen Konzepten, mentalen und emotionalen Zwängen und Einfriedungen unseres Bewußtseinshorizontes überwinden?

Lernen aus der Geschichte
Es gibt in der abendländischen Kultur verschüttete »Goldadern«. Wir wollen die Schichten dessen, was sich als das kollektive Weltbild der abendländischen Kultur erweist, aufgraben und wenigstens bis in jene Anfänge unseres »Lochstreifenbewußtseins« zurückgehen, als der Mensch lernte, sein »Ich« besser zu begreifen. In diesem Zusammenhang scheint insbesondere die Epoche ab 600 v.Chr. bemerkenswert, in der das selbstreflektierende Ich-Bewußtsein seinen Anfang nahm.

Durchbruch des Denkens
In wenigen hundert Jahren vollzog sich eine geistige Revolution. Im Zuge der damals aufbrechenden Sinnfragen des Daseins erfolgten Weichenstellungen, die das abendländische Bewußtsein bis in unsere Zeit geprägt haben. Exemplarisch seien vier Griechen in den Brennpunkt der Betrachtung gerückt: Pythagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles.

Der vorsokratische Theoriebegriff: »gnothi seauton«
»Erkenne dich selbst« stand auf der Eingangssäule des Orakels zu Delphi.
Wenn wir einige Weise des Altertums für unsere Betrachtung heranziehen und die machtgierigen Tyrannen, die sozialen Mißstände, die Ungebildetheit jener Zeit und dergleichen außer acht lassen, dann scheint es Ansätze gegeben zu haben, wo »die Welt noch in Ordnung« war. Was damals Theoria hieß, hatte einen völlig anderen Sinn als das, was zur heutigen Erkenntnismatrize ausgewachsen ist. Und das ist der Achsenpunkt der ganzen vorliegenden Überlegung: Die Theoria des Altertums scheint von unserer heutigen Art des Denkens ebensoweit entfernt zu sein wie das heutige Denken von der Intuition: Man verband damit eine geistige Schau der Natur, ein unmittelbar-seelenhaftes Erfahren des Wesens der Erscheinungswelt, wir würden heute eher sagen: das Ganze hinter den Teilen. Es gab noch keine Trennungsetiketten wie »Ding an sich« oder »Pan-« und »Monotheismus«, keine augustinisch-cartesianische Natur-Geist-Spaltung (dafür aber ganz sicher andere Probleme), und dementsprechend bestand noch eine gewisse Einheit zwischen Mensch, Natur und Kosmos. Dieses Schauen war noch mehr ein Erschauern vor dem Numinosen, dem Heiligen, etwa im Sinne des zentralen Vorganges bei den Mysterien von Eleusis. »Bios theoreticos« stand für die Bestimmung des Menschen, die Wahrheit als die Erkenntnis der ewigen Dinge zu erwerben. Das betrifft die Einsicht in die geistige und materielle Ordnung des Kosmos, die Sinnerkenntnis des weltlichen und überweltlichen Daseins und die daraus resultierende Erkenntnis, um das Wesentliche vom Unwesentlichen im Leben unterscheiden zu lernen1. In Priesterschulen verschiedener Cou-leurs wurden die »alten Wissenschaften« gepflegt: Astrologie/Astronomie, Geomantie, Magie, Jenseitskunde, Kräuterheilkunde u.a. Das in dieser Zeit durchaus reichhaltige Wissen stammte aus babylonischen, sumerischen, ägyptischen, hyperboräischen, ja sogar indischen und chinesischen Quellen.

Pythagoras - die Harmonie der Welt
Einer der größten und am nachhaltigsten wirksamen Lehrer dieser Zeit war Pythagoras (580-500 v.Chr.) (Seine Lehre beschrieb erst 800 Jahre später Jamblichos). Er verdeutlichte die damals eher gefühlsmäßig intuitive Suche nach Erkenntnis und Bewußtseinsentfaltung durch eine dreifache Gliederung: a) »Erkenne dich selbst!« b) »Erkenne die Einheit des Weltgefüges und ihr geistiges Wesen!« und c) »Erkenne die Verbindung zwischen den sterblichen Menschen und den unsterblichen Göttern und deinen Weg von diesem Zustand zu jenem!«2 Um nur das Wichtigste zu streifen: Vorbedingung für alle weiteren Lehren war die ethische Einübung in die »Lebensregeln, die zur Läuterung und Weihe, den Aufstieg in die Freiheit des Äthers führen«3. Sein zweiter Schwerpunkt ist uns heute so gut wie verlorengegangen: Nicht vermittels unseres gewohnten zergliedernden Fragens, sondern über eine Art »meditativer Einfühlung« lehrte er eine Kosmologie der Übereinstimmung von Farbe, Klang, Zahl und Geometrie. Die Quintessenz dieser ganzen Kosmologie hat Pythagoras im genialen Symbol der »Heiligen Tetraktys«, der »Viereckszahl« zusammengefaßt (1+2+3+4=10)4. Sie ist bis in unsere Zeit als das aller Tiefe dieser Symbolik entkleidete »Heilig-Geist-Dreieck« überliefert. (Ein Hinweis, der nicht so einfach überlesen werden sollte!). Daraus leitete er auf die Natur bezogen auch eine »Harmonikale Heilkunde« ab5. Das ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil wir heute, über den »Umweg« der Fraktalen Geometrie und Chaosforschung, die einen wesentlichen Teil des derzeitigen Paradigmenwechsels umfaßt, wieder auf diese fast verlorenen Weisheiten zurückkommen. Auf Pythagoras geht der Begriff der »Sphärenharmonie« zurück, die Kepler weiterentwickelte, dessen »Harmonices Mundi« wiederum Basis für die moderne »Harmonikale Forschung« (H.Kayser, R. Haase usw.) ist. Pythagoras stellte somit an die Seite des Begriffes »Welt-Anschauung« den der »Akroasis«, der »Welt-Anhörung« oder »Ein-Stimmung« (z.B. mittels des Monochords), die erst neuerdings etwa durch J.E. Behrendt wieder populärer wurde. Die pythagoräischen Schulen, die auch Frauen ausbildeten, hatten eine Staatselite zum Ziel (von Plato »Wächter des Staates« genannt), die sich durch hohe Sittlichkeit und Geisteskraft auszeichnen sollten, »würdig und fähig, eine humane Lebensordnung zu entwickeln und die Geschicke des Landes zum Guten und Besten zu führen«.6

Sokrates - Von der Veredelung der Theoria bis zu deren Verelendung
Sokrates wurde etwa hundert Jahre nach Pythagoras geboren (um 470). Er wird immer als der Vater der abendländischen Philosophie bezeichnet, sieht man aber genauer hin, muß man eingestehen, daß er die abendländische Kultur gerade nicht mit dem beerben konnte, was ihm am teuersten war. So wird er gerne als Musterbeispiel für die richtige Art des Fragens hingestellt - ein Wunschtraum, der bis heute (vor allem in den Schulen) kaum eingelöst ist. Sokrates führte den Lehrdialog ein, anstatt von oben herab eine autoritäre Belehrung auszuüben. Diese »Hebammenkunst« (Maieutik) sollte die vernünftige Einsicht in ein tugendsames Leben wecken und Schluß machen mit einer bloß nachahmenden »Mimesis«, die dem Selbst-Sein - einer authentischen Persönlichkeitsentwicklung - letztlich nur im Wege steht. Die Maieutik bestand aus zwei, bei ihm noch eng verflochtenen Stärken des menschlichen Geistes: der Kunst einer sehr erfolgreichen Vernunftargumentation und der inneren Stimme, die er, entsprechend seiner Zeit, seinen »Daimonion« nannte. Sokrates versuchte so durch einfühlendes und logisches Fragen die im Schüler schlummernde Einsicht und authentische Wahrheit zu entbinden (in moderner Form finden wir diese Wende erst wieder bei der »Dialogik« eines Martin Buber und bei Carl Rogers). Die Verurteilung des Sokrates bekundet, wie gefährlich Macht-»Habern« unabhängiges Denken und geistige Aufbrüche bereits im Athen jener Zeit erschienen sind.

Platon - das Rätsel der Erscheinung
Platon ging es neben und mit seinen Ideenlehren bereits um ein organisiertes Erziehungssystem für Athen. In seiner damit eng verbundenen Ideenlehre sah er das Wesen der Erkenntnis als ein »Wiedererinnern« der Seele. Heute versuchen wir wie selbstverständlich, den Menschen ausschließlich aus seiner biologischen Abstammung zu erklären. Platon hatte hingegen eine geistige Abstammungslehre im Sinn (vgl. dazu Platons Dialoge »Gorgias« bzw. »Phaidon« - über die Unsterblichkeit, die Übersinnlichkeit und die Ewigkeit der Seele), die unserem modernen Verständnis über die Reinkarnation sehr nahekommt. Ideologiekritisch gesehen ist es ein interessantes Lehrbeispiel, wie sich aus dieser Perspektive die Fragestellung nach Herkunft, Sinn und Ziel des menschlichen Daseins ganz anders entwickelt als etwa in unserer geläufigen Evolutionstheorie (als wissenschaftliche Antwort auf das kirchlich-eschatologische Dunkel eines »unergründlichen Ratschlusses Gottes«). Mit seiner Ideenlehre systematisierte und erweiterte Platon die Philosophie des Sokrates. In seinem bisher unübertroffenen Höhlengleichnis mag davon die Essenz zum Ausdruck kommen. Darin erfaßte er einerseits das Unvermögen, die Wirklichkeit und letzte Wahrheit zu erkennen: Der Mensch in einer Höhle, mit dem Rücken gegen die Wand gefesselt, erblickt an der Mauer nur die Schatten der Dinge und hält sie für die Wirklichkeit. Dieses Gleichnis ist - angeregt durch modernes esoterisches Denken - gegenwärtig so aktuell wie nie zuvor. Andererseits drückt sich darin die Sehnsucht des Menschen aus, von der bloßen Erscheinungswelt in die Freiheit der dahinterliegenden ewigen Ideen zu gelangen. Doch bereits Platon versuchte, dieses Rätsel, das bis heute ein Zankapfel der Philosophen geblieben ist, zu lösen, indem er in seiner Lehrpraxis der Theorie des systematischen Wissens (um allgemeine Bestimmungen) gegenüber einer letztlich in Begriffen nicht faßbaren Tiefenerkenntnis des Seins den Vorzug gab. Damit vollzog er die entscheidende Weichenstellung für die (einseitige) Zukunft der Fragekunst (Erkenntnistheorie)7. Diese einseitige Bevorzugung des Rationalen gegenüber dem Ganzmenschen verflachte später zu den Gegensätzen von »Ding« und »Wesen«, »Allgemeinem« und »Besonderem« und erlangte mit Descartes ihren Höhepunkt. Hier zieht sich eine fundamentale Verwechslung, die einer geistigen Vernebelung gleichkommt, wie ein roter Faden durch die Geistesgeschichte des Abendlandes8. Im Laufe dieser Abhandlung sollte jedoch deutlich werden, daß ein erfolgversprechenderer Ausweg aus unserem »Höhlendasein« über das Denken als solches hinausführen muß.

Aristoteles - die Begründung der wissenschaftlichen Methode
Aristoteles wird gerne dem »idealistischen« Platon als der »Empiriker«, der Begründer der Wissenschaften, gegenübergestellt. Von seiner Art zu denken als Begriff, Urteil, Schluß, Definition und Beweis ging die sezierende Methode aus, die den Widerspruch zu christlichen Lehren ebenso enthält, wie sie den gro-ßen Teil der Wissenschaften heute noch beherrscht. Seine Trennung zwischen Erkennen und Handeln schaffte bis in unsere Zeit Verwirrung. Die jetzt aufbrechenden geistigen Strömungen versuchen, diese Spaltung zu überwinden. Die klassische Logik des Aristoteles ist doppelbödig, weil sie sich mit dem einfachen Unterschied von Ich und Nicht-Ich begnügt9. Die erst neuerdings in ihrer Bedeutung erkannte Ich-Du-Beziehung (Kommunikationsebene) bleibt dabei ebenso unbeachtet wie deren Unterscheidung vom Dinglichen, das im aristotelischen Begriff nicht minder der (ur-) christlichen Anschauung von einer durch und durch lebendigen Schöpfung widerspricht. Das ändert nichts an der Tatsache, daß Aristoteles der wohl wirkmächtigste aller Philosophen gewesen sein dürfte, dessen Disziplinensystem (Unterrichtsfächer, Fakultäten), Logik und Metaphysik wesentlich das Gitterwerk unserer heutigen Erkenntnismethoden beeinflußt. Dieses polare Denkmuster des Aristoteles artete im Laufe der Zeit in die Gegensätze von Materialismus und Idealismus, in die Spaltung in Natur und Geist und in die Trennung von Wissen und Glauben aus, zumal auch die Scholastik des Hochmittelalters alles unternahm, um das aristotelische Erbe mit den Prinzipien der Kirchenlehre zu verbinden, unbedacht seiner besagten Widersprüche zu den (ursprünglichen) christlichen Lehren. Anders als diese zog es Aristoteles nicht zum »Wesen der Dinge«, sondern zu deren einordnender Analyse, wobei er aber im Unterschied zu Galilei den praktischen Nutzen (der die Naturwissenschaft so erfolgreich machte) daraus nicht ziehen konnte. Er zog vielmehr gegenüber der Tatsachenanalyse die logische vor (obwohl nach ihm eine vielversprechende Entfaltung der Wissenschaft und Technik begann, die leider mit dem Kulturverfall der griechischen Antike wieder verschwand). Indes hatte er den »Daimonion« des Sokrates offenbar schon vollkommen vergessen. Und das war schwerwiegend genug, denn damit vollendete er Platons lediglich lehrpraktische Weichenstellung zu einer bloß auf das Denken reduzierten Geistesdisziplin, die bis heute zum alleinherrschenden Götzen erhoben worden ist (man denke an »rational« versus »irrational«). Damit wurde das, worin sich noch Sokrates nach eigenem Zeugnis in allem leiten ließ und was er höher schätzte als alle sonstige Autorität, nicht mehr weiter verfolgt und gepflegt, verfiel dem Unverständnis und sollte in der Folge bloß zu einem konfessionell-religiösen Druckmittel verkommen. Weiters unterschied Aristoteles vier Grundfragen, von denen die ersten drei (causa materialis = Stoff, das Was; causa formalis = Form, das Wie; causa efficiens = Wirkursache = Wodurch) Eingang in die moderne Naturwissenschaft gefunden haben. Die vierte ist die causa finalis (der Sinn, die Bestimmung von etwas, von ihm auch »Teleologie« genannt). Doch wie alle seine Nach-Denker bis heute, vergaß er zwischen einem vom Menschen zugedachten Zweck (im Sinne unseres heute alles bestimmenden Werkzeug- und Wirtschaftsdenkens) und einem »Sinn für sich selbst« zu unterscheiden. Dieser ist nicht zuletzt auch das Opfer der unglücklichen Chimäre des Pantheismus/Monotheismus-Streits geworden: Die Wesenheiten der Natur (»lebendige Schöpfung«) sollten nicht in ihrer Bestimmung aus ihrem innewohnenden Wesensgrund heraus gelten dürfen, sondern für etwas anderes, Äußeres, sei es für einen unendlich fernen (augustinischen) Gott, oder in der Naturwissenschaft bloß dem Zweck unserer Bedürfnisbefriedigung). So darf es nicht verwundern, wenn die moderne Aufklärung diese Causa finalis, Teleologie und Entelechie (Seele) als vielfach mißbrauchte Worthülsen und unhaltbares Sammelsurium in die Ecke des Aberglaubens kehrte. Als Gegenbeispiel ging etwa der Taoismus einen völlig anderen Weg (der allerdings die soziale Verantwortlichkeit aus den Augen verlor): Er beantwortet die Frage nach der »Wesensnatur« nicht durch Denken, sondern durch einen Akt des inneren Verschmelzens, des Miteinander-Einswerdens. Das Abendland hingegen reduzierte konsequent das höchste Ziel des Menschen, das »Erkenne dich selbst«, auf die Ausbildung und Vervollkommnung der bloßen Vernunft.

Das Christentum - Vom »Geist der Wahrheit« zur Ideologie als Macht
Während auf der einen Seite das Abendland zunehmend im Chaos des zerfallenden römischen Reiches und der Völkerwanderung ertrank, erhob sich auf der anderen Seite eine neue geistige Bewegung über alle Widerstände hinweg zu ständig wachsender äußerer Macht und innerer Einheit: das Christentum. In wenigen Jahrhunderten wurde aus ihr der unbestreitbare Repräsentant der mittelalterlichen Geisteskultur. Doch im fortwährenden Kampf gegen all das, was seine einflußreichsten Köpfe zu Heidentum und Häresie erklärten, festigte und verteidigte es seine »unantastbare christliche Wahrheit« mit großer Konsequenz und Härte. Mit fanatisch-unduldsamer Kraft überdauerte es alle anderen geistigen Körperschaften der Zeit. Das frühe Christentum erinnert - mit einigen wichtigen Einschränkungen - sehr an heutige Strömungen der Pfingstbewegung und Esoterik. Die Einschränkungen betreffen das ganze kulturelle Umfeld: Damals stand einer solch »irrationalen« Bewegung nicht die Macht einer etablierten Naturwissenschaft gegenüber, sondern die zerfallende römische Staatsmacht. Das Erbe der griechischen Hochkultur, etwa der Pythagoräismus, der in den Neuplatonismus aufgegangen war, prägte das frühe Christentum wohl ebenso mit, wie es zu dessen Konkurrenz wurde. Die massivsten Auseinandersetzungen gibt es ja meist zwischen zwei Parteien, die einander im Grunde doch sehr ähneln (wie dies auch für den Manichäismus gilt). Darum war es wichtig, ebenso prinzipielle Unterschiede aufzurichten, auch wenn diese aus anderer Perspektive sehr kleinlich erscheinen mögen, etwa die scharfe Auseinandersetzung über Jesus als herabgestiegenen Gott, der keinen anderen neben sich duldet. Damit allein ließ sich schon ein mächtiges Bollwerk gegen alle Andersdenkenden (sprich: Heiden) errichten. Mit dem Platonismus und Manichäismus gemeinsam hatte diese damalige »Jugendreligion« die Abkehr von allem Irdischen, Zeitlichen, die Hinwendung zur reinen Idee, zum Logos, den man in Jesus Christus verkörpert sah. Die Werkzeuge der Vernunft, repräsentiert etwa durch den abgeklärten Philosophen, waren damals eher selten das Mittel der Wahl, wo es vielmehr um Macht, Kampf und Sieg ging. Der Mensch ist überdies eher bereit, für ein Ideal hoch über ihm als für seine Existenz und seine irdischen Habseligkeiten zu kämpfen und zu sterben. Für sein ewiges Leben zu kämpfen besticht ihn mehr als der Kampf für sein irdisches. Einer solchen Kraft ist auch die Vernunft eine Gefahr. In ihrer ausschließlichen Form kann sie den Menschen gerade jene metaphysische Sehnsucht rauben - siehe dialektischer Materialismus -, die ihm den eigentlichen Sinn und Halt im Leben gibt und ihn so als Rädchen in einem ziemlich mechanischen Uhrwerk verfügbar machen. Verfügbarer Idealismus hat also einen äußerst hohen Kurswert. Und so erklärt sich, daß ein solcher »einzig wahrer Glaube« erst nach eineinhalb Jahrtausenden, nach unsäglichen Enttäuschungen, eine zunehmende Preisgabe erfährt. Um diese Macht des Glaubens noch besser zu verstehen, müssen wir uns der treibenden archetypischen Struktur dahinter bewußt werden: Der Mensch ist stets eingespannt zwischen zwei Polen: dem, was ist, und dem, wonach er sich sehnt, was nach seiner Meinung sein soll. Wenn er kein tiefgreifendes Ziel, keine Vision, keinen Sinn mehr sieht, wofür er sein Leben einsetzen kann, verwirft er es in ausufernder Primitivität. Was den Hauptstrom betrifft, so hat der Abendländer zu jener Zeit beschlossen, seinen Inbegriff für Sinn, Vision und Ziel schlicht und persönlich »Gott« zu nennen. Indes merkte er offenbar gar nicht, wie er als »Taucher auf dem Meeresgrund« zunehmend den Schlauch abschnürte, der ihn von oben her mit dem lebensnotwendigen spirituellen Odem versorgte. Denn anstatt in die Weite und spirituelle Größe zu wachsen, definierte er seine Sinnvorstellungen in einem unaufhörlichen Kleinkrieg gegen seine eigene »niedrige« Natur und gegen äußere Feinde immer enger. Und davon gab es reichlich. Es seien aus dieser Zeit nur einige geschichtsmächtig gewordene Beispiele hervorgehoben: Den Gnostikern, die in ihrem »Hochmut« versuchten, Gott, ihre Erfüllung, durch »Schau« zu erkennen, schleuderte Irenäus einen ganz und gar unbegreiflichen Gott entgegen. Und Tertullian traf mit seinem »Credo quia absurdum« nicht nur »Heiden« und »Häretiker« ins Mark. Er gab damit dem, was sich allmählich aus dem mythischen Bildverstehen des Altertums immer komprimierter als »Glaube« definierte, eine kämpferische Qualität, welche sogar im Zeitalter der herrschenden Naturwissenschaft ein ersehntes Gegengewicht zur durchrationalisierten Eiseskälte des Materialismus und ein Zufluchtsort gegen den zersetzenden analytischen Atomismus ist. Darum ist auch heute die neuerliche Verbindung von Religiosität und Wissenschaftlichkeit, Herz und Hirn, so erstrebenswert. Denn nur sie rüttelt an den Grundfesten jener tiefen Kluft und Wunde, die durch die Auseinandersetzung von Glaube und Wissen entstanden ist.

Zerbrochene Hoffnungen
Während nun auf der einen Front das Blut der Märtyrer half, die kirchliche Macht erst einmal von den mehr philosophisch beschaulichen, toleranteren, aber damit auch vergleichbar feigen gnostischen Christen zu reinigen10, unternahm Origenes (185-254), Schüler desselben Lehrers wie Plotin, den in seiner Weite bis heute unübertroffenen, aber leider erfolglos gebliebenen Versuch der Verschmelzung christlicher und neuplatonischer Einsichten. Sein Werk ist davon geprägt, nicht kämpferisch Widersprechendes, sondern Versöhnliches zum Ausdruck zu bringen. Seine »Allversöhnungslehre« stellte der später dogmatisierten Lehre der ewigen Verdammnis durch einen strafenden Gott die Konzeption eines barmherzigen Gottes gegenüber, der jeden, auch den verlorensten und ärmsten Teufel, letztlich zum Heil führen möchte. Diese Sichtweise steht im Rahmen einer vorweggenommenen Evolutionslehre, die aber im Unterschied zur heutigen nicht auf den Prinzipien von Zufall und Kampf um Gattungsvorteile im materiellen Dasein beruht, sondern vom Sinn nach geistiger Vervollkommnung durchdrungen ist. Damit gibt Origenes zugleich eine vorwärts führende Antwort auf die schwierige Frage nach der ungerechten Chancenverteilung der Individuen durch einen ja doch als nur gut gesehenen Gott (Theodizeeproblem): Die gegenwärtige Lebenssituation sei eine Folge der Vergangenheit der Seele, die ihre Erstursache im Mißbrauch der Willensfreiheit (Abfall von Gott) habe. Für die Entwicklung der Geisteskultur und Pädagogik wäre von großer Wichtigkeit allein schon der Gedanke gewesen, daß er die Bedeutung des Erdenlebens als unerläßlichen Schulungs- und Bewährungsort für die Seele auf ihrem Rückweg zur göttlichen Heimat herausstellte, anstatt darin bloß ein »Jammertal«, einen »Sündenpfuhl« und ein »Grab der Seele« zu sehen. Doch in zahlreiche Intrigen und Zwänge verstrickt, verurteilte Papst Valerius diesen vielversprechenden Ansatz, und so ging die Kulturgeschichte andere Wege11.

Augustinus - Schaden im Nutzen
Denn bald tritt Augustinus auf den Plan, der wohl bedeutendste neben den beiden anderen Kirchenvätern, Ambrosius und Hieronymus. Auf Ambrosius geht im wesentlichen die Regelung Staat-Kirche zurück, indem er den Kaiser dazu brachte, sich in Gehorsam der Kirche zu unterstellen. Hieronymus war die Körperfeindlichkeit wichtiger als das ganze soziale Elend, das mit dem Zerfall des Römischen Reiches einherging. Doch wie kein anderer legte Augustinus das Fundament für eine systematische Macht und Ideologiebildung - zwar in bester Absicht, aber man kann es auch »Entfremdung« nennen. Wie auch immer, er verstand die kirchliche Festung an den tiefsten menschlichen Ängsten zu verankern: So perfektionierte er die von den Platonisten vorgeformte und (u.a.) von Hieronymus und Irenäus ausgefeilte Leib- und Naturfeindlichkeit durch die besonders geschichtsmächtig gewordene Argumentation, der Mensch sei zwar ursprünglich »Ebenbild Gottes«, aber durch die »Erbsünde« von Geburt aus sündig, böse und unwürdig. (Daraus wurde bis Rousseau der Erziehungsbegriff abgeleitet.) Seine geradezu krankhafte Selbstkritik verstrickt ihn bald in den Widerspruch zwischen Erbsünde und Freiheit. Schließlich glaubt er sogar, dem Menschen zuviel der Ehre anzutun, wenn er ihm Freiheit zuschreibt, weil er damit die Ehre Gottes gemindert sieht. Alle Anstrengung aus sich heraus helfe dem Menschen nichts, wenn er nicht durch die Gnade »nach dem ewigen Ratschluß Gottes«, also weiter nicht einsehbar (siehe: »credo quia absurdum«), errettet werde. Diese Überzeugung wäre aber noch vergleichbar harmlos, hätte sie Augustinus nicht mit der Lehre von der ewigen Verdammnis verschweißt. Das machte ihre Wirkung derart nachhaltig, daß sie in der Folge sogar alle Folter und Verfolgung durch die Inquisition rechtfertigen sollte. Selbstverständlich kann der Mensch nicht angesichts einer solchen Schreckenskraft leben. Er wird alles geben, wenn ihm nur jemand einen Ausweg bietet. Und Augustinus war sicher der letzte, der seine Schäfchen den reißenden Wölfen preisgeben wollte. So zog er um sie ein sorgsam behütetes Gehege: das Bild einer Kirche als einige und einzige Gemeinschaft Christi, die nach Gottes Willen (!) die zum Heil Berufenen sammelt und außerhalb derer es kein Heil gibt (in der Form gültig bis zum 2. Vaticanum). (Die Ohrenbeichte sicherte dabei die Kontrolle der kirchlichen Machtpolitik bis in die Schlafzimmer, und der Ablaßzauber brachte neben dem Arrangement mit der weltlichen Macht das nötige Geld, um dem Klerus in allem freie Hand zu geben.) So hat es den Anschein, daß Augustinus, wie gesagt, vermutlich unbeabsichtigt zum Handlanger einer der zynischsten Machtverschwörungen wurde, welche die Welt kennt. Nun hatte er auf den ersten Blick auch manch Bewundernswertes geäußert, so etwa, daß es zwei Offenbarungen gäbe: die eine des »unmittelbar gesprochenen Wortes Gottes«, das in der Bibel für alle Zeiten festgelegt sei, und eine indirekte, in Form der Schöpfung nämlich, der aber aufgrund ihres »gefallenen« Zustandes grundsätzlich zu mißtrauen sei und im Menschen selbst in Richtung Abtötung bekämpft werden müsse. Um nun alle Kräfte auf die erste Offenbarung einzuschwören, also zur Festigung des (»rechten«) Glaubens, ächtete er das kosmozentrische Weltbild der Griechen, das (1.) von einem die Welt durchwirkenden und belebenden Gottesprinzip ausging und das (2.) der Mensch in sich graduell erschauen und erspüren könne. Statt dessen etablierte er (aber keineswegs nur er) das theozentrische Weltbild eines dem Menschen unendlich gegenüberstehenden persönlichen (dreifaltigen) Schöpfergottes. Und der Lehrplan dieses Wahnsinns bleibt in der Folge auch nicht dabei stehen, sondern verspinnt den, der so glaubt, in unzählige Haarspaltereien, deren Ziel die Übung selbst ist: ihn auf Isolation und Trennung zu programmieren, damit er sich im besten »Glauben« Feinde schafft, wo Liebe/Weisheit, Weitsicht und Toleranz am Platze wäre. Ein gutes halbes Jahrtausend verstrich so zunächst ohne Suche nach weiteren Vernunftgründen oder sonderliche Fragen an die Natur. Und was den Geist betrifft, so war von nun an spirituelle Erfahrung, wie sie Mystiker und insbesondere Mystikerinnen haben, nicht mehr und spirituelle Erkenntnis schon gar nicht mehr gefragt. Solche »Wildwüchse« hatten sich entweder kirchenkonform zu verhalten oder spielten mit dem Ausschluß aus der sozialen Gemeinschaft, wenn nicht gar mit dem Tod. Das andere Problem, nämlich daß wir ja nicht so einfach die Natur abtöten und verdrängen können, wurde um die Jahrtausendwende erst von der Scholastik wieder aufgegriffen. Sie durfte endlich die aristotelischen Erkenntnisse neu erschließen, aber nur in jener engen Form, die das Bollwerk des christlichen Glaubens weiter ausbauen half - eine Fessel, welche in der Renaissance zu immer heftigeren Gegenreaktionen Anlaß geben sollte.

Syntheseversuche - vertane Chance
Es sei die Frage berechtigt: Wie sähe das heutige naturwissenschaftliche Weltbild aus, wie hätte insbesondere Darwin seine Theorie formuliert, wenn etwa ein Denker und Seher wie Origenes anstelle von Augustinus geschichtsmächtig geworden wäre? (Der Streit um ihn währte immerhin drei Jahrhunderte und erhebt sich tatsächlich heute wieder erneut, insbesondere seit dem Einspruch jener, die weder der rein materialistischen Evolutionstheorie folgen, noch sich dem fundamentalistischen Lager anschließen wollen.) Ich wies bereits darauf hin, daß Origenes' Werk den Entwurf einer geistigen Evolutionslehre vorwegnimmt, die aber im Unterschied zur heutigen nicht auf den Prinzipien von automatischen Mechanismen, blindem Zufall und Kampf um Gattungsvorteile im materiellen Dasein beruht, sondern von einem Sinn nach geistiger Vervollkommnung getragen wird. Hier ist der Mensch noch untrennbarer Teil des Schöpfungsganzen und ohne ihn, vor allem ohne seine ethische Bewältigung und Durchdringung des Daseins, kann das Schöpfungsganze sein evolutionäres Ziel nicht erreichen - woraus Origenes sogar seine bereits erwähnte Antwort für die schwierige Frage nach der ungerechten Chancenverteilung der Individuen durch einen ja doch als nur gut gesehenen Gott (Theodizeeproblem) ableitet, wonach die gegenwärtige Lebenssituation eine Folge der vorgeburtlichen Vergangenheit der Seele ist, die ihre Erstursache im Mißbrauch ihrer Willensfreiheit (Abfall von Gott) habe. Dabei bleibt es offen, ob Origenes zugleich damit auch eine positive Antwort auf die Reinkarnationsfrage gab. Das ist hier auch nicht das Entscheidende. Wichtig und geradezu von umstürzender Bedeutung wäre vielmehr die Sichtweise, daß der Mensch auch an der Wurzel einer geistigen Evolution teilhat, die noch dazu in keinem Widerspruch zu den tatsächlich recht erhärteten naturwissenschaftlichen Modellen stehen muß. Wichtig wäre nur die Perspektive, daß damit einer (allerdings mehr geisteswissenschaftlich-metaphysischen) Forschung eine Tür aufgestoßen wird, die in ungeahnter Weise das sehr einseitige und menschlich völlig unbefriedigende Ergebnis gängiger Evolutionstheorien ergänzen und auf eine neue Betrachtungsebene heben könnte. Wodurch sich unser gesamter Kulturbegriff neu ordnen würde, und zwar wirklich ordnen! Origenes weist (in der ihm eigenen Ausdrucksweise) somit schon seinerzeit weit über Theorien hinaus, wie sie erst von Teilhard de Chardin in mancher Hinsicht sogar zurückhaltender bzw. nur abstrakt - formuliert worden sind.

Giordano Bruno
In diesen Reigen paßt auch - ich mache jetzt allerdings zeitlich einen über tausendjährigen Sprung - Giordano Bruno (1548 bis 1600). Was wäre gewesen, wenn er, statt dem Glauben am Scheiterhaufen geopfert worden zu sein, seine lebendige Schau des Universums einem Newton hätte gegenüberstellen dürfen? Teilhard hat ihn letztlich nur wiederholt, wenn er von der impliziten Weltenordnung einer Intelligenz sprach, die das Universum und uns selbst durchdringt - und die, wenn sie uns wirklich innewohnt, ja auch von uns selbst (introspektiv) erfahrbar sein muß. (Vielleicht ist es fast zu einfach, um glaubhaft zu sein: Stehen wir nicht so lange im Spannungsfeld der Ideologien, Modelle und Theorien, als wir nicht lernen, mit den Augen der Liebe »von Angesicht zu Angesicht zu schauen« - wie es Paulus in Kor.1/13 nahelegt?)

Der Heilige Gral
Andere Versuche erträumten zaghaft (und mehr geheim als offen) eine freiere Kultur, welche seit dem neunten Jahrhundert begann, die Reste der Gnostiker, arabischer und jüdischer Geheimlehren und keltischer Naturweisheit mit einem rein mystischen Christentum zu einer höheren Einheit zu verbinden. Den bekanntesten Niederschlag fanden diese Entwürfe in den verschiedenen Versionen des Gralsepos. In ihm widerspiegelt sich der wohl schillerndste, tiefsinnigste, weil urbildhafteste »Synkretismus«, in Wahrheit aber schlicht und ergreifend der ewige Mythos von der Suche der Seele nach ihrer wahren Heimat. »Gral« bedeutet »gradale«, will heißen: der stufenweise Aufstieg der Seele ins Licht, er ist aber auch der »lapis exilis« oder »ex coelis«, der (grüne) Stein, der einst das Dritte Auge Luzifers zierte, welcher der Legende nach bei seinem Sturz ins Dunkel auf die Erde fiel (exoterisch: vielleicht die Erinnerung an einen über Böhmen geborstenen großen Meteor, siehe Moldavite). Die Irrungen führen »Perceval« mitten hindurch durch die Niederungen des Daseins, durch das Dickicht unserer »gefallenen« Natur (was den abendländischen Weg wesentlich vom orientalischen unterscheidet). Es ist ein Weg durch mehrschichtige Umwandlungen: vom Narren zum Ritter (»Retter«) und zum Gralskönig; sie führen zugleich den Mann ins Erlernen der weiblichen (empfangenden) Attribute ein, also von der roten Rose der Leidenschaft als »Conduir amour« (Führung durch Liebe) bis zur »Blanche fleur«, der Siegeslilie, der Verherrlichung; und zugleich damit vom »Amfortas« - den am Geschlecht Verwundeten, Siechenden - zu dessen Heilung und Befreiung, um endlich wieder seinen Platz am Tisch und Born der Fülle und des ewigen Lebens zu finden (also statt bloßem Sex in die Aktivierung der spirituellen Schaltzentren des Bewußtseins - der Chakren). In dieser Zeit blühte und fruchtete ein unerhört reichhaltiger Symbolismus, dem die verschiedensten Bewegungen entwuchsen: Katharer, Templer, auch die (geheimen) Bauherrnorden der gothischen Kathedralen und nicht zuletzt (nämlich als Wiederbelebung der alten Naturphilosophie) die Alchemisten.

Andere Kräfte
Genau das, was heute der universitären und technologischen Wissenschaft völlig verloren gegangen ist, war die große Stärke der Alchimie: die bei weitem unterschätzte Fähigkeit des Menschen zur kreativen Symbolisation. Damit meine ich einen Bewußtseinsprozeß, der Wirklichkeit schafft, indem er Urbilder (Archetypen) aufzugreifen vermag, um sie für sich und für die Welt, in der er lebt, fruchtbar anzuwenden. Anwenden kann allerdings immer zweierlei heißen (und das gilt für jedes Tun): Egozentrisch oder im Einklang mit dem Ganzen. Im Mittelalter galt die egozentrische Form unter »Eingeweihten« klar als Schwarze Magie, heute hingegen wird sie allzu oft als nützliches, gesellschaftsübliches Erfolgsstreben gepriesen (wohl ein deutliches Zeichen, wie sehr wir in unserer heutigen Kultur einen »ganz normalen Wahnsinn« leben). Um in Einklang mit dem Ganzen zu kommen, gibt es seit jeher eine Reihe erprobter Mittel: die Entscheidung, sein Leben auf diese Ganzheit abzustimmen und das Ego ihr zu unterstellen; das Gebet; Meditation und Introspektion; das Ritual (etwa Kreisrituale), welches durch ein äußeres Abbild das Urbild, also die ursprüngliche, noch heile Welt im Inneren des Gestalters/Betrachters erweckt; dazu gehört meist eine andere Form von »Trance« als die, in der wir normalerweise den Tag verleben: Sie wird induziert etwa durch das gerade angedeutete rituelle Sich-Hineinversetzen, also durch die Ausführung einer Kosmogonie sowie durch Anrufungen; ähnliches bewirkt das monotone Wiederholen von Gebetsformeln oder genau geübtes Intonieren bestimmter Silben(-folgen); des weiteren können andere Bewußtseinszustände entstehen durch Atemdisziplin, durch Rhythmus, Musik und Tanz (wobei nicht selten ganz bestimmte Schritte und Haltungen mitentscheiden).

Alchimie
Das alles dürfte damals mehr oder minder geheim geübt worden sein. Doch entwickelte sich vor allem eine Art, ähnlich der Kosmogonie (nur betonter vorwärts führend): die verschlungenen Wege der Alchimie. Sie entgingen am ehesten dem eifersüchtigen Auge der damaligen Machtkirche, weil sich ihr Wesen hinter einer schier undurchdringlichen christlichen Symbolik verbarg und weil jeder den Schlüssel dazu letztlich selbst finden mußte. Ihre Stärke war zugleich auch ihre Unfertigkeit, ihre Offenheit, ja es war nicht einmal klar bewußt und ausgedrückt, was darin tatsächlich wirkte - etwa daß eine derartige Veränderung von Naturprozessen gleichzeitig zur Komprimation und »Schwingungserhöhung« der Bioenergie führt. Dieser Vorgang schließt oft auch die vorgenannten Methoden mit ein, bevorzugt aber folgende Bewußtseinsprozesse: die Gleichsetzung von innen und außen, Subjekt und Objekt (Emotion und »Äther«-Energie), den Dialog zwischen Bewußtseinen und Lebendigkeiten, in dem es an sich nichts Totes, Starres, Festes gibt; die Anbindung von oben und unten, Geist (das Heilige schlechthin) und Natur, das konsequente Denken in Analogien, Symbolen und Qualitäten (Blei ist nicht das Element Blei, sondern wird nur durch dieses repräsentiert). So wird aus »dem, was jeder verachtet« (dem excrementum) der »lapis philosophorum«, der Stein der Weisen - durch eine Aufeinanderfolge mühevoller Prozesse, die immer wieder scheitern, bis sie endlich glücken, dann nämlich, wenn das Innere so geläutert ist, daß es diese Läuterung auch im Äußeren bewirkt. Selbst aus diesen wenigen Andeutungen geht hervor, daß es sich hier im Vergleich zu unserer heutigen Version von »kultureller Trance« um ein gänzlich anderes, ja teilweise geradezu konträres Bewußtsein handelt. Leider ist es eine Eigenart des »modernen«, ach so »aufgeklärten« Menschen, daß er bloß verspottet, was er nicht versteht ... Auch wenn dieses »ganz andere« noch irgendwo in seinem Unterbe-wußtsein spukt, etwa als romantische Idee oder als der Aberglaube, mit dem er seine Geschäfte und Liebschaften umgarnt, er hat es - je universitärer, desto perverser (und überheblicher) - meist ungemein und ungeniert verdrängt. Gut, auch hier eine »mittelalterliche« Idee, die auf dem Weg zur Ganzheit vielleicht endlich wieder mit neuen Augen betrachtet werden möchte ... Es ist hier leider nicht ausreichend Platz, um noch weitere bedeutende Geister hervorzuheben, die versuchten, in eine dunkle Epoche der Machtpolitik etwas Licht zu bringen: Etwa ein Paracelsus, weitaus früher schon eine Hildegard von Bingen, eine Theresa von Avila, Nicolaus Cusanus, Jacob Böhme ... Wenigstens einer von ihnen sei noch gestreift:

Meister Eckehart
Meister Eckehart (1260-1327) gehört wohl zu denen, die am aussagekräftigsten und sprachgewandtesten versuchten, den morschen und fehlgeleiteten Geleisen von Feudalismus, Klerikalismus und Theologismus die eigentlichen Tiefen christlicher Grundideen gegenüberzustellen. Zwar wurde auch er am Ende seines Lebens gezwungen, seiner Lehre eine allgemein gehaltene Widerrufung beizufügen, und so konnte natürlich auch sein Werk der kirchlichen Zensur nicht entrinnen. Aber durch einige seiner Schüler und in manchem durch Nicolaus Cusanus überlebte doch zumindest etwas davon und fristete ein umkämpftes Dasein auf manchen Höfen und Schulen. Heute - nicht zuletzt durch seine Ähnlichkeit mit buddhistischen Ideen und Paradigmen - findet er zunehmend wieder Beachtung. Meister Eckehart machte den großartigen Versuch, die Widersprüche zwischen Glauben und logischem Wissen über eine christliche Mystik auszuräumen. Mit ihm wird deutlich, daß dem Menschen stets zwei Wege offen stehen: den in die grenzenlose Vielfalt und den in die unermeßliche Einheit, den nach außen und den nach innen, den in die Beobachtung der Natur als Objekt oder den in die Vertiefung in sich selbst, in die innere Natur, ins Wesen oder die Natur der Natur; den in die Beherrschung der Welt und den in die Beherrschung seiner selbst; den des Eintauchens in alles außen Machbare, Verfügbare oder in alles gleich einem Spiegel unser selbst, egal ob innen oder außen (wobei ja das eine das andere nicht ausschließt; die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende ist aber auch eine Geschichte der Trennung und damit einseitigen Verzerrung). Wenn die Seele alles ausscheidet, was sie von Gott trennt, so wird sie Gott gleich. »Danach folgt, daß sein Wesen und seine Substanz und seine Natur mein ist. Und wenn denn seine Substanz, sein Wesen und seine Natur mein ist, so bin ich der Sohn Gottes.« Mit solchen Aussagen machte er sich freilich nicht beliebt und mußte am Ende seiner irdischen Tage widerrufen, wonach sich die Zensoren über sein Werk hermachten. Das Bollwerk der äußeren (konfessionell-dogmatisch statt mystisch, anders gesagt: durch »Glauben« anstatt Re-Ligio begründeten) Macht konnte sein Erziehungswerk im Volk fortsetzen. Eckehart aber weist mit seiner Lehre vom inneren Gottesfunken den Ausweg aus der Trennung von Geist und Natur, konnte allerdings damit den Lauf der Geistesgeschichte, die sich bereits auf eine solche Trennung eingeschworen hatte, kaum beeinflussen. Wie Augustinus am Anfang steht als der geistige Vater einer äußeren Machtkirche, so steht Eckhart am Ende der Scholastik als der geistige Vater einer inneren Geistkirche, die allerdings leider bis heute noch nicht gesellschaftswirksam geworden ist.

In den Spiegel geschaut
Sein Werk läßt sich als Versuch verstehen, uns zu schonungsloser Betrachtung im Spiegel der Herzenserkenntnis anzuhalten. Doch noch eine andere schwerwiegende Frage an unsere »Kultur« wirft dieses Werk auf: Mag sein, daß wir Ziele, die in äußere Macht münden, noch halbwegs sicher als inhuman entlarven können. Haben wir aber im anderen Extrem ein Recht, Wege abzulehnen, die uns tiefer in die Geheimnisse unseres Lebens einführen, die uns auch sensibler, wertvoller für Mitmensch und Natur machen, nur weil sie nicht in die Mode der Zeit oder Tradition passen? Darum ist der Zynismus, mit dem die etablierte Wissenschaft und die öffentliche Diskussion meist solch grundlegenden Existenzfragen ausweicht, nicht nur unverständlich, sondern zeugt eigentlich von der Primitivität unseres heutigen Zeitgeistes, dem bei genauerer Betrachtung jedes Naturvolk überlegen ist. Und wir müssen außerdem zugeben, daß es in unseren Norm-Schulen nichts gibt, was auch nur Ansätze zu einer solchen seelischen Verfeinerung bieten könnte. Im Gegenteil, deren Lehrplan begnügt sich bisher weitgehend damit, Heranwachsende in Richtung Beherrschung der äußeren Welt zu programmieren. Diese Einseitigkeit und gefährliche Überschätzung des menschlichen Masses verstärkt sich noch in der folgenden Periode der wissenschaftlichen Revolution.

Anmerkungen:

  1. Olof Gigon: Die Lebensform der Theoria; in: Propyläen Weltgeschichte, Bd. 3, Ullstein Vlg., Frankfurt/Berlin 1986, S. 609ff.
  2. Inge von Wedemeyer: Die Goldenen Verse des Pythagoras, Vlg. Heilbronn 1983, S. 21 u. 55
  3. a.a.O. S. 27ff
  4. a.a.O. S. 41ff
  5. a.a.O. S. 47ff. Diese Heilkunde beruht auf der Elementelehre von Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther.
  6. a.a.O. S. 9
  7. Hans Sluga am 2. Kongreß für Österreichische Philosophie, Wien 1990, in »Mensch, Natur, Gesellschaft«, Solaris Vlg. Innsbruck, Jg. 8, H. 1, S. 6
  8. Hans Sluga, a.a.O.
  9. Herbert Pietschmann: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, Ed. Weitbrecht 1991, S. 245
  10. Elaine Pagels: Verführung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien; Suhrkamp Tb. Frankfurt 1987).
  11. Propyläen Weltgeschichte, Bd. IV, S. 464 ff)

 

[Teil 2] [CROPfm] [Past Shows]